Ich habe einmal sechs Jahre lang in der ” Unnergass” gelebt, zwei Stockwerke hoch über dem Kopfsteinpflaster, wo die Stille schweigt wie ein Weinberg in der Mittagssonne.
Mit einer Dachgaube zur Straße hin, auf deren Schieferplatten nachts die Tauben stöhnten und nach Herzenslust der Regen trommeln konnte. Nie habe ich mich so beschützt gefühlt wie in dieser Zeit!
Mein lauschiges Nest lag gegenüber jener Häuserzeile, die mit der Stadtmauer verwachsen ist.
Er ist die Plackerei jeden Umzugs wert, weil er im Neuankömmling eine Art verhockten Gemeinschaftssinn weckt, der locker das Gespür für jedwede Art von Distanz aus dem Weg fegt. Kaum steht man am Fenster, treibt einen das zwanghafte Begehren um, einen Blick ins Privatgemach der Nachbarschaft zu werfen. Oder mehr oder weniger unfreiwillig Zeuge zu werden, wie im Hotelzimmer vis-à-vis verliebte Urlaubsgäste grad zur Sache kommen.
was ich gar nicht sehen wollte, oder endlich sehen dürfen, was zwar belanglos ist wie sonst was auf der Welt aber verteufelt unterhaltsam. Eine “Unnergässerin” beispielsweise haderte ständig mit ihren barocken Kurven, obwohl sie laut hartnäckigem Bekunden “fast nichts“ aß.
nun hat mir das Auge dafür geöffnet, dass die abendliche Suppenschüssel voll Kartoffelships plus zwei Tafeln Schokolade, verspeist in Liegestellung vor dem Fernseher, in der Tat „fast nichts“ sein kann im Verhältnis zur Futterration eines Elefanten. So gesehen schärft die “Unnergass” schon mal den Sinn für Relationen (Scherz).
Vor allem aber beruhigt sie auf breiter Seelenbasis. Öffnet man das Fenster zur Bergseite, überrascht urplötzlich ein Schwall Vogelstimmen von orchestralem Ausmaß. Der schallt aus dem verstrüppten Schlossberg herüber und bringt mit der Macht der reinen Töne den Radaupegel der darunter rumorenden Ortsdurchfahrt zum Verstummen.
Jedes Jahr im Frühling nämlich, wenn nachts das Rheintal in die Stille abtaucht, schlägt in besagtem Berghang die große Stunde eines kleinen Vogels, der tagsüber den Schnabel hält.
Das Nachtigallen-Tal ist zwar unter diesem Namen längst vergessen, im Herzen alter „Schiffische“ aber lebt es ungebrochen weiter. Als das Radar-System noch nicht erfunden war, mussten die Schleppkähne auf dem Rhein vor Einbruch der Dunkelheit stets irgendwo vor Anker gehen, wenn sie nicht nachtblind an den Riffen kentern wollten.
Wem da nur noch ein paar Rheinkilometer Wegstrecke bis Bacharach fehlten, der lud schnell noch tüchtig Kohle nach, im Visier das „Nachtigallen-Tal“, um sich am Ziel der Sehnsucht von der „Stimme der Natur“ in den Schlaf trällern zu lassen.
Die Ankerstelle auf Höhe des heutigen Spielplatzes war heiß umschwärmt unter allen Schiffersleut von Rotterdam bis Basel. Spätestens um Dreiundzwanzig Uhr „schlug“ im Berghang vis-à-vis der erste Vogel an und jubelte seine Arie in die offenen Kajüten-Fenster.
Wer noch nicht weiß, wie eine Nachtigall auf Brautschau klingt, erfährt es hier: Sie tschilpt nicht wie der Spatz, sie trällert auch nicht wie die Lärche immer dieselbe Weise sondern flötet unablässig völlig neue Vogellieder in die Welt! In die fällt mit fort schreitender Nachtstunde der Rest „bräutelnder“ Artgenossen ein und überrollt den Südzipfel der Stadt mit einem Himmel voller Melodienklänge.
Im Mai 87 musste einem Nachtigallen-Männchen auf Freiersfüßen der Faden der Kontaktaufnahme gerissen sein. Es ging leer aus bei der Partnersuche und komponierte verzweifelt durch bis Mitte Juli. Jede Nacht von elf bis vier. Die letzte liebestolle Weise perlte auf, als schon die Spatzen von den Dächern tschilpten. In jenen Wochen schoss bei mir die Kreativität ins Kraut. Ich malte eine ganze Galerie voll Bilder. Gott segne die Nachtigall!
Die historische Vorgeschichte der “Unnergass” klingt wie ein Kontrastprogramm zu ihrer beschaulichen Wohn-Idylle heute. Im Mittelalter grenzte sie an den Hafen, den Platz der Plätze Bacharachs, und das wiederum erhob die „Unnergass“ zur bedeutendsten Straße der Stadt.
um die profitträchtige Gunst von Wein- und Holzhändlern, Tagelöhnern und Marketenderinnen, und vor der Stadtmauer griffen sich die Klauen des bulligen Hebekrans die mit Feuerwein gefüllten Fässer und Gallonen und fütterten die am Ufer lauernden Bäuche der Frachtkähne mit dem Gold der Region. Kurzum: wer etwas auf sich hielt in jenen Tagen zwischen Schlossberg und Flussufer, der residierte in der „Unnergass“, am Puls der Zeit.
Sie hat Qualität. Mehr noch: sie hat Stil! Hier nämlich kann man sich noch in moderatem Plauderton von Fenster zu Fenster „über die Gass“ hinweg austauschen, weil kein Verkehrslärm von unten herauf das „Geschwätz“ torpediert. Gebrüllt wird anderswo. In der “Unnergass” regiert das kultivierte Miteinander.
Durchlaufende Mitbürger zu Füßen des Geschehens werden dabei großmütig in den Meinungsaustausch integriert, vorausgesetzt, sie haben zuvor mit Anstand die Hauswand hinauf gegrüßt.
Der Gruß aufwärts zu den gesprächsbereiten Straßenfenstern gehört sich so. Zum einen. Zum anderen ist er berechnendes Kalkül. Er wird zunächst, „Moin, Moin!“, mit demonstrativ nichtssagendem Gesichtsausdruck bei zügigem Schritt abgesetzt, damit unbedingt der Eindruck auf kommt, man hätte nichts weiter nötig als sich selbst und nur der letzte Blödian durchschaut, dass man in Wirklichkeit konversationsmäßig ziemlich ausgehungert ist.
Das lag daran, dass meine Privatwohnung zugleich als Büro diente und unterhaltsamer Kontakt zur Außenwelt erst Sinn machte, wenn das Tagespensum journalistischer Arbeit bewältigt war. In besonders arbeitsintensiven Phasen waren dann kochen, schlafen, texten an immer demselben Ort fällig, was bei mir gelegentlich die Angst vor altweiberhafter Vereinsamung schürte. Wozu es aber Gottseidank nicht kam, denn es gab ja „die Unnergass“. Dort ging der Weg dann hin.
Hier war ständig jemand auf dem Kopfsteinpflaster unterwegs, hing mit der Nasenspitze aus dem Fenster raus oder trat gerade durch die Haustür, fast immer von derselben Not getrieben wie grad ich.
Das „Geschwätz“ in der „Unnergass“ nach Stunden sprachloser Abgeschiedenheit hat extrem aufbauende Wirkung. Den Auftakt macht in aller Regel ein verbales Bäuerchen zum Wetter, egal wie trocken oder nass es sich gerade äußert. Das Wetter ist für alles gut.
Der kann prächtig auf dem Laufenden halten mit Antworten auf Fragen, die unter den Nägeln brennen: Wussten Sie, dass dem “Hotel Kranenturm“ bei jedem Hochwasser die Gefriertruhe im Keller bis Oberkante Deckel absäuft und die Versicherung „nix“ bezahlt, nix, gar nix und auch der Staat „nix“? Und dass der Chef des Hauses darüber immer noch nicht den Verstand verloren hat, na, wussten Sie`s?
Und dass dem „Joste-Metzger“ vor der Tür zum Schlachthaus einmal ein Fünfzentner-Ochs durchgegangen ist bis auf die „Obergass“ und dort mit seiner vertrampelten Wut zum Leben die halbe Stadt unter Strom gesetzt hat, dass Bullrich-Salz bei Durchfall hilft und Stühlerücken gegen Haarausfall, dass jetzt auch für die Sitzbänke in den Rheinanlagen Hockgebühr erhoben wird, falls die Schwarzen bei der Stadtratswahl die Mehrheit holen, dass die Sozis „immer gegen alles sind“ und die Grünen ohnehin „verdächtig“ und, und, und ….. In „der “Unnergass“ kann alles, was das Herz bewegt, in Ruhe ausdiskutiert werden, weil kein Auto mit Tempo Achtzig durch die Konversation brettert und nur die Dohlen vom Dach herunter ihren Kommentar beisteuern. Ein Hoch auf die “Unnergass”!