Kaum in der Rosenstraße, passiert man linkerhand zwei Fachwerkhäuser, die ein ohnehin schon krottenschmales Hexenhäuschen derart in die Zange nehmen, dass man sich fragt, wie darin ein Mensch noch wohnen kann, ohne vor Platzangst die Nerven zu verlieren.
Doch man kann durchaus, denn wir sind hier im kleinen Bacharach, und niemand gerät in Panik oder fällt vom Glauben ab ob der schachtelengen Wohnverhältnisse.
Auch dann nicht, wenn man hin und wieder einen Schlitz passieren muss, der wie ein städteplanerisches Missgeschick ins Auge sticht, in Wirklichkeit aber ein richtiger, kleiner Weg ist. Dieser klafft am Nebenhaus der malträtierten Hütte und führt nach “Klein Venedig”.
Hoppla, stutzt der Gast aus Minnesota, wo das Land so weit ist, dass es dir die Sprache verschlägt: „Wenn schon eine Lagunen-Schönheit wie Venedig als Namensgeberin für diesen Winkel herangezogen wird,
„Ach, das brauchen wir nicht“, fabuliert zurück, wer ein rechter Bacharacher ist und empfiehlt: „Drück Dich erst mal durch den Spalt ins scheinbar Ungewisse und lass Dich überraschen“.
Gesagt, getan: plötzlich rauscht silberhell der Bach unter fremden Füßen, und der Gast steht im frischen Windzug mitten auf „nem Brückelsche“.
Dieses aber ist keine Brücke im stabilen Sinne ihrer eigentlichen Wortbedeutung sondern ein verschämter Bummelsteeg, der so hinfällig konstruiert scheint, dass der Mensch beim Darüberlaufen fürchten muss, er könnte unter seinem Tritt zusammen brechen. Doch auch das wird nicht geschehen. Stattdessen fühlt sich der Gast umarmt von weltenferner Stille und voll und ganz bei sich.
Von allen Seiten grüßen mit schicksalsschweren Blick die aus dem Lot gestürzten Fensterhöhlen der rückseitigen Häuserwände unseres alten Judenviertels. Kein Motorenlärm traktiert das Trommelfell, kein Hund bellt und nicht einmal ein Vöglein zwitschert. Es ist, als hätt`der Lärm der Welt die Pause aller Pausen eingelegt.
unterm nächsten Haus in Richtung Vater Rhein.
Wer in den Reiz des Ursprünglichen verliebt ist, freut sich heimlich, dass in “Klein-Venedig” die Stadtsanierung noch nicht mit letzter Perfektion gewütet hat.
Hier wird die rückwärtige Hauswand erst dann noch einmal nach gestrichen, wenn die Straßenfront zum “Rosengässchen” schon dreimal an der Reihe war, wird der morsche Blumenkasten auf dem Fensterbrett erst dann mit frischen Latten ausgebessert, wenn die Geranien „vorne raus“ schon in der vierten neuen Bleibe knospen und wird das rostige Stück Kendel dann ausgewechselt, wenn vom Budget des letzten Teneriffa-Urlaubs noch ein Restbetrag für „Sonstiges“ verblieb.
der nach außen um Gutwetter wirbt, und das ist auch in liebenswerter Ordnung so!
Kaum zu glauben, wie oft und gerne selbst die Bacharacher schnell mal durch die abgelegene Idylle huschen. Unterwegs zur nächsten Jahreshauptversammlung oder morgens früh beim Brötchenholen. Ein Schlenker durch die schummrige Vertrautheit “Klein-Venedigs” ist hoch beliebt und offensichtlich jedes Mal von Neuem wieder schön. Jemand hat einmal gesagt: “Heimat nutzt sich nie ab”. So isses.
Was Wunder auch: “Klein-Venedig” scheint sich um die Wechselfälle der Geschichte keinen Kopf gemacht zu haben. Unterm bröckelnden Verputz im Gefach der Hauswand hat das späte Mittelalter überlebt mit uralter Füllung aus Schilfgeflecht und Lehm, das von knüppelharten Wintern zu erzählen weiß und schwerem Eisgang auf dem Rhein, von stillem Menschen-Glück in lausig schiefen Fachwerkhütten und von engen Gassen, wo der Nachtwächter zur Geisterstunde noch mit der Petroleumfunsel um die Häuser schlurfte.
Kaum etwas kann mehr Bacharach sein als “Klein-Venedig” und so sympathisch gestrig wie ein alter Schlager, den man nie vergisst!
Es geht auch weniger berauscht: Wenn lärmende Motorräder die Innenstadt heimsuchen, lernt selbst der versnobte Luxus-Urlauber eine unscheinbare Flüsterwelt zu schätzen, wo ein gewisser Münzbach, den in Moskau niemand kennt, unter fremden Füßen plätschert.